Ein zuviel an religiösen Dingen - Predigt von 1893
Vor mehr als 100 Jahren kam ein Wanderprediger in Affoltern vorbei. Seine feurigen Predigten füllten die Kirche von Tag zu Tag. Der Pfarrer war darüber nicht nur erfreut. An einem Sonntag sprach er ins Gewissen der Gemeinde.
Vor mehr als 100 Jahren kam ein Wanderprediger in Affoltern vorbei. Seine feurigen Predigten füllten die Kirche von Tag zu Tag. Der Pfarrer war darüber nicht nur erfreut. An einem Sonntag sprach er ins Gewissen der Gemeinde.
Ein zuviel an religiösen Dingen
Predigt zu 1. Tessal. 5, 21 vom 12. März 1893 in Affoltern am Albis
Pfr. R. H. Denzler
Wir stehen in der Passionszeit. Meine Aufgabe wäre es daher eigentlich, eine Passionspredigt zu halten. Das kann ich aber im gegenwärtigen Zeitpunkte nicht tun. Es ist etwas anderes, was jetzt meine Aufmerksamkeit in hohem Masse in Anspruch nimmt, nämlich die Erregung auf dem kirchlich religiösen Gebiet der Gemeinde, die in jüngster Zeit unter uns zu Tage getreten ist. Ihr werdet Euch keineswegs darüber verwundern, wenn ich darauf zu reden komme. Ist es doch Pflicht & Aufgabe eueres Seelsorgers, das kirchlich religiöse Leben der Gemeinde zu überwachen & hierfür stets offene Augen zu haben, um, wo es Not tut, die Gemeindeglieder zu belehren & freundliche Mahnungen & Warnungen an dieselben zu richten.
Das möchte ich nun heute tun. Es fällt mir freilich nach dem Vorausgegangenen nicht so leicht & ich setze mich vielleicht dabei manch scharfem Urteil aus. Aber was ich heute rede, das tue ich aus Liebe zu meiner Christengemeinde, deren Wohl mir am Herzen liegt. Übrigens wer einfach seine Überzeugung ausspricht & der Wahrheit Zeugnis gibt, der hat sich von Niemandem zu scheuen. Jedem unter Euch, welcher Richtung des kirchlich religiösen Lebens er auch angehören mag, habe ich heute etwas ans Herz zu legen. Keiner soll dabei leer ausgehen. Jedem möchte ich einen Denkzettel mit ins Haus geben, aber nicht etwa, um ihm, wie man im gewöhnlichen Leben zu sagen pflegt, eins anzuhängen. So etwas tut ein Seelsorger nicht. Wohl aber möchte ich Jedem etwas mitgeben zum ruhigen Nachdenken im stillen Kämmerlein des Hauses, zu ernsten Prüfung vor Gott & seinem Gewissen.
Eine auffallende, merkwürdige Bewegung im kirchlichen Leben ist jüngst in unserer Gemeinde zu Tage getreten. Da kommt ein fremder Mann zu uns & fängt an, Tag für Tag religiöse Vorträge zu halten. Er übt durch die volkstümliche (?) Weise, mit der er auftritt, rasch eine besondere Anziehungskraft auf die Zuhörer aus. Einer sagt zum Andern: "Komm doch & höre! Du wirst Dich verwundern, mit welcher Gewalt der Mann redet & die Herzen der Hörer zu ergreifen weiss!" So wächst die Zuhörerschaft immer mehr, bis am Schluss seines Auftretens vergangenen (?) Sonntag selbst der letzte Platz in der Kirche besetzt wird & manche die ganze Zeit hindurch stehen mussten. Es muss doch etwas besonderes an diesem Mann gewesen sein, dass er mit seinen religiösen Ansprachen eine so grosse Anziehungskraft auszuüben vermochte.
Nachher konnte man dann freilich die widersprechendsten Urteile über ihn hören. Die einen, vielleicht die grosse Mehrzahl, konnten diesen Prediger nicht genug rühmen & waren von hoher Begeisterung für ihn eingenommen. Andere urteilten etwas kühler & fanden die Art seines Auftretens nicht nach ihrem Geschmack. Wieder Andere richteten & verurteilten ihn & meinten, man hätte einen solchen Mann gar nicht in der Kirche auftreten lassen sollen. Suchen wir nun diese einander so widersprechenden Urteile auf ihr richtiges Mass zurückzuführen. Wir wollen also heute etwas näher betrachten:
Die neueste Bewegung auf dem Gebiete des kirchlich religiösen Lebens der Gemeinde.
Es ist nicht eine eigentliche Predigt, die ich jetzt halten will, sondern mehr nur eine religiöse Ansprache. Ich knüpfe sie an an das bekannte Wort des Apostels Paulus: "Prüfte alles, behaltet das Gute! " Das ist ein wichtiges Wort, das aller Beherzigung wert ist. Wie nötig haben wir es doch, alles wohl zu prüfen, was uns im Leben entgegentritt. Ist es etwas Böses & Sündliches, so sollen wir es entschieden von der Hand weisen; ist es dagegen etwas Gutes, dann sollen wir es festhalten, es gern & freudig in unser Inneres aufnehmen & es zur Bekehrung unseres Sinnes & Wandels verwenden. Besonders ist sorgfältige Prüfung auch nötig, wo es sich ums Urteil über Andere handelt, damit man nicht ein schiefes, irriges Urteil abgebe & Andern ungerecht werde.
Bei der jüngsten Bewegung im kirchlichen Leben unserer Gemeinde hat sich vielleicht Menschen die Frage aufgedrängt: "War es denn nötig, dass ein solcher Mann hierher kommen und während mehr als einer Woche Tag für Tag Busspredigten ans Volk richte und dadurch eine so grosse Aufregung in der Gemeinde hervorrufe?" Darauf antworte ich in aller Ruhe: wäre das kirchlich religiöse Leben in der Gemeinde so, wie es sein sollte und wünschbar wäre, dann wäre allerdings das Erscheinen eines solchen Predigers höchst überflüssig, gewissermassen wie das 5e Rad am Wagen. Man könnte dann seiner leicht entbehren. Aber, die Hand aufs Herz, liebe Christen, prüfe doch einmal jeder sich selbst hierüber vor Gott und seinem Gewissen! Müssen nicht viele sich anklagen, sie seien selber Schuld daran, dass einzelne Gemeindeglieder auf den Gedanken kommen mussten & sich gedrungen fühlten, zur Werbung und Erlabung des in so vielen Herzen erstorbenen christlichen Lebens ausserordentliche Mittel anzuwenden. Wie Manche sind in unserer Gemeinde zu finden, die dem einladenden Ruf der Glocken zur Teilnahme am Gottesdienst, zu brüderlicher, gemeinsamer Erbauung mit ihren Mitchristen keine Folge leisten und höchst selten oder gar nie zur Kirche gehen, als wären sie erhaben über alles das, was Gottes Wort ihren Seelen zur Speise darbieten möchte. Wie viel Laue, Gleichgültige & Leichtsinnige gibt's noch unter uns, die sich ums religiöse Leben gar nicht kümmern. Solche sollen dann ja nicht etwa mit dem eitlen Selbstruhm kommen & sagen: "Die können doch rechte Christen sein, auch wenn sie am Gottesdienst keinen Anteil nehmen". Sie vergessen offenbar, dass das religiöse Leben einer zarten Pflanze gleicht, die genährt & gepflegt sein will, wenn sie nicht allmählich verkümmern soll. Ist aber einmal das religiöse Leben dem Ersterben nahe, dann übt es auch keinen Einfluss mehr aufs Verhalten, auf die Pflichterfüllung aus & es geht dem Menschen je länger, je mehr auch der rechte Haltpunkt fürs s' tägliche Leben verloren. So sinken solche Leute zu blossen Namenchristen herab, ohne dass diesem Namen auch ein christliches Leben entsprechen würde.
Ist es nicht ein Unrecht, wenn Solche dann sich anmassen, über diejenigen zu Gericht zu sitzen, die vielleicht ein regeres religiöses Leben & ein lebhafteres Bedürfnis nach Erbauung in ihrem Herzen tragen, als sie? Wie irren sich solche Leute, wenn sie das religiöse Bedürfnis ihrer Mitchristen nach ihrem eigenen, vielleicht gar nicht einmal in ihrem Herzen vorhandenen Bedürfnis beurteilen wollen. Und was muss man vollends denken von denen, die da murrten, räsonierten & richteten, ohne auch nur ein einziges Mal jenen Predigten zugehört zu haben? Auf das Urteil solcher Leute ist ja gar nichts zu geben. Sie reden in den Tag hinein, etwa wie wenn ein Blinder von den Farben reden will, die er nicht sieht, nicht erkennt, also auch kein Urteil darüber hat. So haben Manche über die kirchlich religiöse Bewegung in unserer Gemeinde blindlings geurteilt &damit Andern Unrecht getan. Wie nötig haben es doch solche Alle, dem Worte der Schrift nachzuleben: "Prüfet alles, behaltet das Gute! " Ja, Christen, prüfen soll man zuerst, ehe man urteilt, & zwar prüfen nicht so, dass man von vom herein schon von Abneigung und Widerwillen gegen eine Sache eingenommen ist, sondern vorurteilsfrei, so dass man genau untersucht, ob etwas Gutes daran sei, oder nicht. Findet man aber darin etwas Gutes, dann soll man das auch rückhaltlos anerkennen und nicht 'in blinder Voreingenommenheit schnell Alles verwerfen (?) & den Stab darüber brechen. Hütet Euch, Christen, vor solch vorschnellem und ungerechtem Richten und denket an das ernste Wort unseres Heilandes: "Richtet nicht, auf dass Ihr nicht Berichtet werdet! Verdammet nicht, damit Ihr nicht verdammt werdet! " Arbeitet lieber daran, in Eurem eigenen Herzen unter Gottes Hülfe christlichen Sinn und christliches Leben zu mehren, damit Ihr Lust & Freude daran gewinnt, hier im Gotteshause, vereint mit euren Mitchristen euere Herzen betend zum Himmel zu erheben & das Wort der Wahrheit & des Lebens in euere Seelen bringen zu lassen.
Nun aber, 1. Chr., wie ist wohl das Auftreten des Missionarspredigers oder genauer gesagt dieses Evangelisten zu beurteilen? Verdient er in Allem rühmende Anerkennung? Oder ist etwas an seinem Wirken auszusetzen & bejahenden Falles, was? Ich glaube möglichst vorurteilsfrei zu urteilen, wenn ich sage, dass ich Lob und Tadel aussprechen muss. Wenn ich mich auch zum Tadel veranlasst sehe, so verwahre ich mich aber von vom herein gegen den Vorwurf, als tue ich es aus Neid, weil 'euer Evangelist einen so grossen Zulauf hatte. Nein, Christen, das wäre ein ungerechter Vorwurf 4-mal habe ich seine Vorträge mit aller Aufmerksamkeit angehört, um mir ein ruhiges & unbefangenes Urteil über sein Wirken zu bilden. Neidlos habe ich zugeschaut, wie von Tag zu Tag die Zahl seiner Zuhörer wuchs, - habe mich mit ihm gefreut, dass die Kirche sich immer mehr füllte, habe ihm zum Abschiede die Hand gedrückt & ihm gedankt für alle die guten Anregungen zu christlichem Sinn &Leben, die er mit seinen religiösen Vorträgen gegeben habe. - Fragen wir uns nun: Welche Aufgabe hatte er denn eigentlich? Und wie hat er sie gelöst? Er war ursprünglich Missionar in Westafrika, aber nur für die Dauer von etwa 5 Jahren, dann nötigte ihn eine jahrelang andauernde, sein Leben gefährdende Krankheit, den Missionsdienst ganz aufzugeben. Er steht nun im Dienste eines Komitees in Basel für innere Mission zur Wahrung & Förderung christlichen Lebens innerhalb der evangelischen Kirche. In dieser Eigenschaft kam er in die hiesige Gemeinde, & man wird es anerkennen müssen, dass er diese seine Aufgabe ganz & voll erfüllt hat. Er ist offenbar ein mit reichen Gaben des Geistes ausgerüsteter Mann, von besonderem Rednertalent, der mit heiligem Ernst, mit warmem Eifer, in hehrer Begeisterung das Evangelium verkündete. Er traf den volkstümlichen Ton, der die Zuhörer fesselte. Er verstand es, die Herzen zu erfassen, die schlummernden Gewissen zu wecken & dem religiösen Leben im Innern einen neuen Impuls zu geben. Es wäre also nicht recht, wenn man das nicht liebend anerkennen würde. Er hat in guten Treuen getan, was ihm als Evangelisten aufgetragen war.
Nun wird man freilich, 1. Chr., auch sagen können, es sei manches zu stark, in zu grellen Farben vorgetragen worden; es hätten sich dieselben Wahrheiten in anderer Form ausführen lassen, die weniger verletzt hätte & gleichwohl in die Tiefen der Seele gedrungen wäre. Das lässt sich allerdings nicht bestreiten. Ich möchte aber das diesem volkstümlichen Redner nicht allzu hoch anrechnen. Bedenket er wohl, was das heissen will, innert 1 0 Tagen 1 0 oder 1 1 Predigten oder religiöse Ansprachen zu halten. Die Wenigsten unter Euch haben eine Ahnung davon, was das für eine Geistesarbeit ist. Der Prediger mag zwar wohl schon oft auch andernwärts ähnliche Vorträge gehalten haben, so dass sie ihm hier um so leichter von Statten gingen. Aber er hat doch meist in seinen Vorträgen, wie man zu sagen pflegt, aus dem Stegreif geredet & da kann man
1 von einem solchen Redner, zumal wenn er rasch & mit Begeisterung spricht, nicht erwarten, dass er jedes einzelne Wörtlein auf die Waagschale lege.
Dagegen muss ich einen entschiedenen Tadel aussprechen darüber, dass der Prediger wiederholt am Schluss seiner Vorträge an die Versammelten die Einladung richtete: "Kommet Alle, Alle zu mir & ich will mein Möglichstes tun, um Euch dazu zu verhelfen, dass Ihr zum Frieden kommt." Wie?! - zu ihm soll man kommen, um sich, um seine Person will er die Leute fesseln, um ihnen zum Frieden zu verhelfen? - und siehe! zahlreiche, weibliche Personen sollen denn auch wirklich zu ihm gekommen sein, um ihr Herz vor ihm auszuschütten & gewissermassen vor ihm zu beichten, wie wenn kein Seelsorger sich in der Gemeinde befinden würde, der doch jederzeit bereit wäre, denen, die es bei ihm suchen, Rat & Trost zu erteilen. Ich zweifle ja keinen Augenblick daran, dass es jener Prediger gut meinte & die Leute, die zu ihm kamen, aufrichtete, tröstete,
1 in t ihnen betete & nach bestem Wissen & Gewissen ihnen seinen guten Rat erteilte. Aber, liebe Christen, es lag aber doch darin eine geistliche Anmassung, ein Eingriff in die seelsorgerlichen Rechte des Ortspfarrers. Er, der die Aufgabe hatte, innerhalb der Kirche christliches Leben zu wecken, die Gemeindeglieder zu ihrem Seelsorger zu weisen & zu fleissiger Teilnahme am Gottesdienst zu ermuntern, hat die Leute zu sich eingeladen & an seine Person gefesselt. Es lag aber noch in anderer Hinsicht eine geistliche Anmassung in der Einladung: "Kommet Alle, Alle zu mir & ich will Euch dazu verhelfen, dass Ihr zum Frieden kommet." Der Prediger hat sich damit ein Wort zu eigen gemacht, das ein Anderer vor ihm gesprochen hat, & zwar Einer, der auch allein dazu berechtigt war, nämlich Jesus Christus, unser Heiland. Er sprach: "Kommet zu mir Alle, die Ihr mühselig und beladen seid & ich will Euch Ruhe geben." Ja, an ihn, den Heiland der Welt, müsset Ihr Euch im Geiste wenden, vor ihm beuget euere Knie in aller Demut eueres Herzens, um bei ihm Rat & Trost & Hülfe zu suchen. Er allein vermag denen, die geängstigten & zerschlagenen Herzens sind, Ruhe & Frieden für die Seele zu verleihen. Denn "er nur ist für uns der Weg, die Wahrheit & das Leben, niemand kommt zum Vater als nur durch ihn."
111.
Nun wende ich mich aber noch an diejenigen, die christlichen Sinn & christliches Leben in ihren Herzen tragen mögen, fleissig am Gottesdienst Teil nehmen & das Bedürfnis in sich spüren, auch sonst noch in besonderen Versammlungen Erbauung zu suchen. An diese möchte ich ein ernstgemeintes, warnendes Wort richten. Vor allem sehe ich mich veranlasst, die allzu grosse Begeisterung derer, die von jenen Vorträgen ganz entzückt waren & sie fast bis in den Himmel erhoben, etwas herabzustimmen & sie auf ein richtiges Mass zurückzuführen. Es mag da wohl manche gegeben haben, die da sagten: das war einmal ein Prediger; der vermochte den Leuten ins Herz zu reden. Einen solchen sollte man haben; der würde das kirchliche Leben der Gemeinde zu ungeahntem Aufschwung bringen. Wie übertrieben & wie irrig können doch manchmal die Leute urteilen. Solche erwägen gar nicht, dass die so rasch auf einander folgenden Vorträge für den Augenblick berechnet waren, um zu wecken, anzuregen & zu beleben, für längere Zeit sich aber gar nicht eignen würden. Ich nenne die 10 Tage, während welchen jener Prediger auftrat, einen Augenblick im Vergleich mit dem Dezennien lang dauernden Wirken eines Seelsorgers an seiner Gemeinde. Es lassen sich leicht auf ganz kurze Zeit ernste Busspredigten zusammendrängen; aber dann müssen sie wieder aufhören, sonst würden sie all ihre Kraft verlieren. Wenn ein solcher Prediger nun 1/4 Jahr lang fort & fort Busspredigten halten wollte, so würde er seine eigenen Worte immer mehr abschwächen & sich völlig auspredigen. Ausdrücke wie z.B.: "Bekehre dich, du armer Sünder, so lange es noch Zeit ist, sonst packt dich der Teufel & reisst dich in den Abgrund des Verderbens hinab. solche Kraftausdrücke, solche Effekthascherei mag wohl vielleicht eine Zeit lang auf gewisse Leute ihre Wirkung ausüben, aber wenn sich so etwas häufig wiederholt, so macht es zuletzt gar keinen Eindruck mehr. Solche Vorträge eignen sich also nicht auf die Dauer. Das weiss ein solcher Evangelist selber gar wohl. Darum kommt er nur für ganz kurze Zeit & verschwindet wieder um an anderem Ort in ähnlicher Weise zu wirken.
Man hätte denken sollen, die evangelisch Gesinnten wären nun zufrieden damit & würden sich darüber freuen, dass durch diesen Evangelisten das kirchliche Leben in der Gemeinde einen neuen Impuls empfangen habe. Doch nein. Ich musste vernehmen, jetzt denke man erst recht daran, immer neue Leute & neue Prediger herbeizuziehen, damit das geweckte christliche Leben nicht zurückgehe, sondern noch mehr gefördert werde. Man sieht: "Der Appetit wächst mit dem Essen! " Es will mir aber vorkommen, es liege darin eine Übertreibung, vor der ich wohlmeinend warnen möchte. Wer nach immer neuen, besonderen Anregungen für sein inneres, religiöses Leben begehrt, ist zu vergleichen mit einem Feinschmecker, der apparte, ausgezeichnete Gerichte für sich beansprucht, und wenn er sie eine Zeit lang genossen hat, sich nicht mehr damit zufrieden gibt, sondern immer neue, exquisite Speisen begehrt bis er darub zuletzt die Lust & Liebe zur Hausmannskost verliert, - die Lust & Liebe zum gewöhnlichen, täglichen Brot, zum Brot des Lebens, wie es hier im Gotteshause den Seelen dargeboten wird. Ihr kennet doch wohl Alle das Sprichwort: "Zu viel ist ungesund." In diesem Worte liegt eine tiefe Wahrheit, die sich auf viele Lebensverhältnisse anwenden lässt. Es gibt ein Zuviel schon im Essen & Trinken, was zur Schwelgerei & Trunksucht führt, - ein Zuviel in der Putzsucht, wodurch die Eitelkeit genährt wird, - ein Zuviel im Haschen nach zeitlichen Gutem, was von Habsucht zeugt, - ein Zuviel im Jagen nach immer neuen Vergnügungen & Lustbarkeiten, wodurch Weltsinn & Genusssucht gemehrt wird. So gibt es aber auch ein Zuviel in religiösen Dingen, was zur Überspanntheit & zur Geistesverwirrung führt. Das sehen leider einzelne Personen in ihrem Übereifer nicht ein. Sie werden nicht müde, das Feuer des religiösen Lebens immer mehr anzufachen & zu schüren, damit es doch ja recht bald als helle Flamme emporlodere. Ja, ja, als helle Flamme! - Aber eine Flamme erleuchtet und erwärmt nicht bloss, sie kann auch verzehren, verzehren das geistige Leben. Und wie traurig ist es nicht, wenn nun eine Seele geistig umnachtet wird. Welch ein Unglück bricht damit über ihre ganze Haushaltung herein. Und nun noch eins! Liebe Christen, habet Ihr denn eigentlich bei all eurem Forschen, Suchen & Hören des göttlichen Wortes in besonderen Versammlungen noch immer nicht das Rechte & Gute gefunden, um hieran festhalten zu können im Leben & im Sterben? Oder was ist von einem Suchen zu halten, wenn man bei allem Suchen doch nicht findet, sondern nach immer neuen Reizmitteln fürs innere Leben begehrt? Erwehret Euch doch vor allzu übertriebenem Eifer, mit dem Ihr Euch nur in eine schiefe Stellung zu Eueren Mitchristen, zu den übrigen Gliedern der Gemeinde versetzen würdet. Bedenket es wohl! Nicht das Hören allein ist die Hauptsache, sondern das Tun des göttlichen Willens, wie dies Jakobus sagt mit dem Worte, das an Deutlichkeit Nichts zu wünschen übrig lässt: "Seid Täter des Wortes & nicht allein Hörer, indem Ihr Euch selbst betrüget." Wenn Gott christlichen Sinn und christliches Leben in Euch gebracht hat, so freut Euch dessen von Herzen, saget Gott Lob & Dank dafür & folget der Mahnung unseres Heilandes, der Euch zuruft: "Lasset euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie euere guten Werke sehen & den Vater, der in den Himmeln ist, preisen!"
Ich glaube nun, gel. Chr., wie ich es im Anfang versprochen, jedem unter Euch etwas mitgegeben zu haben zum ruhigen, ernsten Nachdenken im stillen Kämmerlein des Hauses & wende nun zum Schlusse auch auf meine eigene religiöse Ansprache an Euch das Wort des Apostels Paulus an: "Prüfet Alles, behaltet das Gute!"
Amen